Sally Smith – Der Tote in der Crown Row

⭐⭐⭐⭐⭐

Ungemein vielschichtiger Krimi um einen Richtermord in London im Jahr 1901

Wenn eine Kronanwältin einen Kriminalroman schreibt, der unter Kronanwälten und Lordrichtern spielt, dann kann man davon ausgehen, dass Setting, Figuren und Stimmung des Romans authentisch sein können. Das genau ist hier der Fall, auch wenn die Autorin ihren absolut gelungenen Debütroman im London des Jahres 1901 ansiedelt.

Im Temple-Bezirk, dem völlig autarken, nur der eigenen Gerichtsbarkeit unterstehenden Bereich in London, in dem sich die Anwaltsbüros und die Wirkstätten der Lordrichter, der Barristers und Solicitors befinden, wird eines Morgens die Leiche des Lordoberrichters Dunning gefunden, ohne Schuhe und Strümpfe. Erstochen mit einem Tafelmesser, welches nur im Temple verwendet wird. Dieser Temple wiederum wird allabendlich verschlossen und nur Befugte haben Zutritt.

Gegen seinen Willen und nur unter Androhung des Verlust seiner geliebten Wohnung wird der Anwalt Gabriel Ward damit beauftragt, in dieser Mordsache zu ermitteln. Denn die Polizei hat innerhalb des Temple keinerlei Befugnisse. Dennoch bekommt Gabriel Unterstützung von Constable Wright, der quasi die Verbindung zur Außenwelt in Form der Polizei herstellt.

Gabriel, immer fest eingebunden in seine Gewohnheiten und Rituale, hat den Temple seit Jahrzehnten nicht verlassen. Er lebt allein mit seinen Tausenden Büchern, die ihm als Gesellschaft immer genügen und ihm stets neues Wissen vermitteln. Wissen, das ihm nun bei seinen zuerst widerwilligen, dann aber für ihn selbst auch immer fesselnderen Ermittlungen hilft. Diese führt er ebenso akribisch und auf reiner Logik und viel Menschenkenntnis aufbauend wie seine Prozesse.

Einen solchen Prozess hat er parallel zu seinen Recherchen zu erledigen. Darin geht es um ein Kinderbuch, dessen Manuskript ein Verleger einst vor seiner Tür fand. Trotz ungemeiner Anstrengungen war es diesem nicht gelungen, die Verfasserin ausfindig zu machen, auch nicht, nachdem das Buch ein enormer Erfolg wurde. Nun aber hat sich eine Frau gemeldet und behauptet, das Buch geschrieben zu haben. Ob das stimmt und wie man das beweisen oder widerlegen kann, darüber muss Gabriel nun ebenso nachdenken wie über die vielen Spuren und Hinweise im Mordfall.

Sally Smith erzählt diese Geschichte geruhsam und betulich, ohne das jemals Langeweile aufkommt. Alle Beschreibungen, alle Vorkommnisse und vor allem alle Figuren sind spannend, sehr interessant und mit scharfem Profil und viel Tiefgang dargestellt. Und trotz der behutsamen, langsamen und einfühlsamen Erzählweise entwickelt das Ganze eine enorme Spannung. Auch weil man natürlich ahnt, dass die beiden Handlungsstränge irgendwie miteinander verwoben sein könnten und nun darauf wartet, dass sich das erschließt. Und auch der Humor, leise und eher unterschwellig, kommt nicht zu kurz.

Die Autorin beschränkt sich aber nicht nur auf das Erzählen einer Kriminalgeschichte. Zwischen die Zeilen packt sie sozusagen noch einiges an Gesellschaftskritik. Da geht es zum einen um die enorme Diskrepanz zwischen Arm und Reich, dargestellt an den krassen Unterschieden zwischen den reichen und verwöhnten Anwaltsgattinnen und dem schwer arbeitenden, gerade mal 14jährigen Küchenmädchen. Und es geht um die Unterdrückung von Frauen, denen noch lange nicht die gleichen Rechte eingeräumt werden wie den Männern. So war es zu dieser Zeit Frauen absolut verwehrt, Jura zu studieren und damit Anwältin oder Richterin zu werden. All das thematisiert Sally Smith in ihrem Roman, ohne dogmatisch zu werden, ohne aufdringlich ihre Meinung kundtun zu wollen. Gerade deswegen wirkt es umso eindringlicher.

Auch dass sie nicht jedes Klischee vermeidet, ist nicht negativ, im Gegenteil. Die oben erwähnten Anwaltsgattinnen sind quasi wandelnde Klischees, aber auch das passt vollkommen und zeigt genau diese gesellschaftlichen Unterschiede besonders deutlich.

Alles in allem ein absolut und vollkommen gelungener Erstlingsroman, den man unumwunden empfehlen kann. Und natürlich möchte ich dem so liebenswerten Gabriel Ward und dem sympathischen Constable Wright unbedingt einmal wiederbegegnen.

Sally Smith – Der Tote in der Crown Row
aus dem Englischen von Sibylle Schmidt
Goldmann, April 2025
Gebundene Ausgabe, 399 Seiten, 22,00 €

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