Sehr berührender Jugendroman um die Aufarbeitung von Trauer
Wie damit umgehen, wenn die eigene Mutter bei einem Verkehrsunfall getötet wird? Wie die Trauer, die Wut verarbeiten? Und die Rachegefühle.
Der 17jährige Asher steht vor diesen Fragen, die ihn völlig überfordern. Seine Mutter wurde getötet, als sie für ihn neue Fußballschuhe kaufen wollte. Ein Sattelschlepper hat ihr Auto zertrümmert, sie starb. Zurück blieben Asher, sein Vater und die vierjährige kleine Schwester.
Er fühlt sich schuldig an ihrem Tod, wegen der Fußballschuhe, und möchte gleichzeitig Rache nehmen an dem betrunkenen Fahrer des Sattelschleppers. Er will ihn töten.
An diesem Vorhaben ändern auch die Trauergruppen nichts, die er fast täglich besucht. Da ist die eine mit alten Menschen, darunter Henry, der seine verstorbene Frau Evelyn schmerzlich vermisst. Und da ist die zweite Gruppe Trauernder, deren Leiterin Asher stets Peter Pan nennt wegen ihrer grünen Strumpfhose. In dieser Gruppe trifft er Sloane, deren Vater an einer Krankheit starb und Will, der seinen kleinen Bruder verlor, der an einem Tumor litt.
Sloane trägt stets die ihr viel zu große Jacke des Vaters und seine Stiefel, während Will sich hinter einem Helm aus langen Haaren versteckt. Zwischen den dreien entsteht nach und nach sehr viel Verständnis, Verständnis, auf das sie außerhalb der Gruppe nur selten stoßen, zu groß ist ihr Schmerz, zu groß der Verlust.
Als Asher sich aufmachen will, den Fahrer des Sattelschleppers, der seine Mutter tötete, zu besuchen, um diesen umzubringen, kann er sowohl den alten Henry wie auch Sloane und Will überreden, mitzukommen. Und so begeben sich die Vier, begleitet von der Urne mit der Asche von Henrys Frau, auf einen Roadtrip durch die USA.
Wie sie auf dieser Fahrt lernen, ihre Trauer zu begreifen, sie zu artikulieren, sie zu akzeptieren, das ist so wunderbar einfühlsam beschrieben, dass man diese jungen Menschen gerne trösten würde, obwohl es für sie ja kaum einen Trost gibt. Welche Trigger bei ihnen heftige Anfälle von Schmerz und Trauer auslösen, aus denen sie oftmals wie befreit wieder auftauchen, wie sie sich gegenseitig immer wieder aufrichten, wie sie sich dabei unterstützen, die unmöglichsten Dinge zu tun, um den Verstorbenen nahe zu sein, das schildert die Autorin so ergreifend, so realistisch und zu Herzen gehend, dass man stets mitfühlt, mitleidet.
Die Figuren sind authentisch, die Sprache, die Burschikosität, die Ruppigkeit und gleichzeitig Einfühlsamkeit, die Ehrlichkeit und das Verständnis, mit dem die drei jungen Menschen miteinander umgehen, das mag manchmal etwas übertrieben, etwas unwahrscheinlich für jemanden in ihrem Alter anmuten. Dabei wirkt es im Gegenteil gerade passend für Teenager an der Schwelle zum Erwachsensein, die viel ehrlicher ihre Gefühle zeigen können als Erwachsene das gemeinhin tun.
Und immer wieder geschieht völlig überraschendes, unvorhersehbares, agieren die Menschen ganz anders als man erwarten würde.
Manchmal wiederholt sich vieles, manchmal wünscht man sich weniger Drama, mehr Optimismus. Doch immer wieder kriegt die Geschichte die Kurve, bevor es wirklich zu viel, zu unerträglich wird, reißt die Autorin das Steuer herum und bekommt wieder die Richtung, fährt ihren Roman wieder in Richtung Zukunft.
Sie trifft so genau die Sprache der Jugendlichen, auch wenn manches etwas weit hergeholt ist, manches etwas unglaubwürdig, jedenfalls für europäische Verhältnisse, in denen wir uns so eine Fahrt mit 17Jährigen am Steuer kaum vorstellen können, auch nicht, dass ein solcher Jugendlicher problemlos die Kreditkarte des Vaters überall einsetzen kann.
Man mag sich nicht vorstellen, wie es einem selbst in diesen Situationen ergehen würde, man wünscht sich aber unbedingt solche Freunde an der Seite.
Nur Henry ist ein bisschen blass. Manchmal darf er eine Rolle spielen, bekommt einen kurzen Auftritt, ansonsten ist er oft nur Staffage. Das ist etwas schade, hier wäre mehr Potential gewesen.
Ein aus vollem Herzen zu empfehlender Roman, bei dessen Lektüre man das eine oder andere Taschentuch griffbereit haben sollte.
K.J. Reilly – Das Verhalten ziemlich normaler Menschen
aus dem Englischen von Ute Mihr
dtv Reihe Hanser, Oktober 2024
Klappenbroschur, 346 Seiten, 16,00 €