Oliver Schütte – „Schau mir in die Augen, Kleines“ : Die Kunst der Dialoggestaltung

Dieses Buch sollte für alle, die schreiben wollen, Pflichtlektüre werden. Selten habe ich so fundierte, so hilfreiche und so wertvolle Anleitungen zum kreativen Schreiben gefunden.

Dass es sich um ein Buch handelt, das sich an Drehbuchschreiber wendet, in welchem es darum geht, gute, beste Drehbücher für Filme zu verfassen, tut meiner Begeisterung keinen Abbruch. Denn nahezu alles, was darin aufgeführt ist, lässt sich eins zu eins auf das Schreiben von Romanen oder Erzählungen übertragen.

Denn Oliver Schütte, selbst mit Preisen ausgezeichneter Dramaturg und seit vielen Jahren Dozent an internationalen Filmhochschulen, beschränkt sich nicht auf die Dialoggestaltung, auf die Sprache oder die Pointen. Er geht viel tiefer in die Materie.

Dialog ist immer Ausdruck dessen, der spricht. Also beginnt gutes Dialogschreiben mit der Ausgestaltung der Figuren. Die Drehbuchautorin muss ihre Figuren kennen, muss wissen, spüren, was sie fühlen. Sie muss ein Gespür haben für die Sprache der Figur, den Charakter. Sie muss wissen, was hat die Figur geprägt, was ihre Entwicklung befördert, was hat sie gehemmt. Schütte regt dazu an, Autobiografien der Figuren zu schreiben, mit ihnen Interviews zu führen, um den Sprachduktus, den Sprachfluss der Figur kennenzulernen. Erst wenn der Drehbuchautor selbst in die Handlung eintaucht, selbst fühlt, was die Figur in der Szene fühlt, kann er der Figur die passende, die perfekte Sprache, den perfekten Dialog geben.

Um dieses Ziel zu erreichen, soll man das Dialogschreiben üben, regelrecht trainieren. Eine Möglichkeit ist, anderen Menschen, im Zug, im Café, zu lauschen. Paare zu belauschen beim Streiten, beim Flirten, Eltern, die sich mit ihren Kindern unterhalten und vieles mehr. Diese Gespräche vielleicht sogar aufnehmen, zuhause nachhören, in Dialoge übertragen und diese mit eigenen Worten fortsetzen. So werden Dialoge in Romanen und Drehbüchern authentisch.

Ein besonders wichtiges Kapitel befasst sich mit dem Aufbau von Szenen, die genauso in drei Akte zu unterteilen sind wie ein ganzer Roman bzw. ein Film. Hier unterlegt Schütte seine Erklärungen mit anschaulichen Tafeln, Tabellen und wieder mit vielen Beispielen.

Aber Oliver Schütte deckt in seinem Buch noch viele weitere Aspekte des Dialogschreibens ab. Er betont die Bedeutung des Ortes, wo ein Gespräch stattfindet, für den Verlauf des Dialogs. Auch oder vor allem der Status der Sprechenden, im Allgemeinen und im Zwiegespräch, ist von großer Bedeutung für den Dialog, er hat auf verschiedenste Weise Einfluss auf den Verlauf des Dialogs.

Ein besonders langes Kapitel widmet der Autor dem Umschreiben von Dialogen. Wie beim Schreiben generell hat man auch bei Dialogen die Möglichkeit, einfach drauflos zu schreiben oder jedes Wort sorgfältig abzuwägen. In beiden Fällen, einmal mehr, einmal weniger, muss man den Text hinterher überarbeiten. Dem sollte sich eine Drehbuchautorin, jede Autorin, mit viel Zeit, mit Konzentration, vor allem aber mit großer Bereitschaft zum Streichen, Ändern, Umschreiben, widmen.

Noch viele weitere, kleinere und bedeutendere Kniffe stellt Oliver Schütte vor. So die Verwendung von Metaphern, den Einfluss von Tempo und Satzbau auf die Wirkung eines Dialogs. Und er befasst sich auch mit anderen Aspekten, die insbesondere im Film von Belang sind, wie die Voice-over-Technik.

All das unterlegt der Autor mit zahlreichen Beispielen aus vielen bekannten Filmen. Wo er sich auf Zitate aus amerikanischen Filmen bezieht, so zitiert er diese im englischen Original (weist im Vorwort auf die Möglichkeit hin, die deutsche Fassung im Internet zu finden). Das führt dazu, dass die vom jeweiligen Drehbuchautor erstrebte Wirkung im Beispiel viel besser transportiert wird als dies in einer Übersetzung möglich wäre.

Doch nicht nur mit Theorie wird die Leserin dieses Buchs beschenkt, Schütte gibt viele Anregungen zu Übungen, im Anhang finden sich diese noch einmal gebündelt wieder. So beispielsweise die Fragen, die man den Figuren stellen sollte, die Fragen, die an den Dialog selbst gerichtet sein sollten, in jeder Szene wieder gestellt werden müssen.

Dies ist ein Buch, das man nicht einfach in den Schrank zurückstellen sollte. Nein, man muss es neben der Tastatur liegen haben beim Schreiben, es immer wieder zur Hand nehmen. Das ist auch das, was sich der Autor von seinen Leserinnen wünscht. Erfüllen wir ihm diesen Wunsch.

Oliver Schütte – „Schau mir in die Augen, Kleines“ : Die Kunst der Dialoggestaltung
Heribert von Halem Verlag, Januar 2022
Taschenbuch, 301 Seiten, 28,00 €

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