Keigo Higashino – Kleine Wunder um Mitternacht

Ein traumhaftes Märchen – ein Märchen, zum Träumen schön.
Wer wünscht sich nicht auch ab und zu einen zuverlässigen Ratgeber, jemanden, der nicht urteilt, der nicht bewertet, sondern hilfreiche Ratschläge erteilt, handfeste Anweisungen gibt oder der auch mal zugibt, keinen Rat zu wissen.
Keigo Higashino, ein bislang vor allem als Autor von Kriminalromanen bekannt gewordener japanischer Schriftsteller, erzählt die Geschichte eines solchen Beraters.

Yuji Namiya, Ladenbesitzer und über siebzig Jahre alt, findet Gefallen daran, Menschen, die zweifeln, die nicht weiterwissen, zu helfen. An seinem Laden gibt es einen Briefkasten, dort hinein werfen diese Ratsuchenden ihre Briefe, in denen sie ihm, sich dabei stets hinter einem Pseudonym verbergend, ihre Lage schildern, ihr Dilemma beschreiben und ihn bitten, ihnen den Ausweg zu zeigen. Zuerst sind es Kinder, die witzige Fragen stellen, auf die sie ebenso humorvolle, augenzwinkernde Antworten bekommen. Doch im Laufe der Zeit werden die Fragen konkreter, schwieriger, die Probleme belastender.

Inzwischen ist Yuji Namiya lange verstorben, der Laden seit 30 Jahren geschlossen. Doch eines Nachts suchen genau dort drei jugendliche Kleinkriminelle Unterschlupf, nachdem sie einen Einbruch begangen haben. Plötzlich kommt ein Brief durch den alten Schlitz, ein Mensch bittet um Rat, steht vor einer lebensentscheidenden Frage. Nach längerer Diskussion beschließen die Jugendlichen, auf den Brief zu antworten. Und ehe sie sich versehen, kommen weitere Briefe, verfassen sie längere, durchdachte Antworten. Helfen sie den Ratsuchenden.

In diese Rahmenhandlung eingeflochten sind die Geschichten der Menschen, die im Laden um Rat fragen. Da ist der junge Mann, der so gerne Musiker wäre, doch den Fischladen des Vaters übernehmen soll. Da ist die Sportlerin, die sich entscheiden muss, ob sie ihr Training für Olympia fortsetzt oder lieber am Bett ihres sterbenden Liebsten wacht. Da ist das blutjunge Mädchen, das nach Unabhängigkeit strebt und dafür viel wagt. Und irgendwie hängen all diese Schicksale zusammen, sind verwoben wie ein filigranes Netz aus Lebenswegen und Lebensgeschichten.

Vieles ist mystisch in diesem Roman, märchenhaft, fantastisch. Doch man muss nicht versuchen, zu verstehen, was geschieht. Man muss sich leiten lassen von diesen zauberhaften Worten, dann beginnt man an Wunder zu glauben. An all die kleinen Wunder, die den Menschen im Lauf ihres Lebens begegnen, die unerklärlich bleiben und trotzdem oder deswegen umso wundervoller sind.

Keigo Higashino ist eine unglaublich unglaubliche Geschichte gelungen. Mit einfachen Worten, ohne Phrasen, ohne Schmalz oder Kitsch, klar und geradeheraus. Er erzählt von einfachen, ganz normalen Menschen mit ganz normalen Problemen. Ohne Gefühlsduselei, ohne Schönfärberei, auf japanische Art, aber gerade darum umso berührender.

Ein Roman, nach dessen Lektüre man mit einem Lächeln zurückbleibt, mit dem Gefühl, es kann doch alles gut werden.

Keigo Higashino – Kleine Wunder um Mitternacht
Deutsch von Astrid Finke
Limes, April 2021
Gebundene Ausgabe, 414 Seiten, 20,00 €

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