Richard Wagamese – Der gefrorene Himmel

Beim Lesen dieses Romans habe ich gefroren. Nicht weil bei mir zu Hause die Heizung ausgefallen wäre, und auch nicht, weil der Roman sich intensiv mit Eishockey beschäftigt. Sondern weil die Welt des Protagonisten Saul Indian Horse, weil die Atmosphäre im gesamten Roman so kalt, so fast ohne jede Wärme ist. Dabei ist der Protagonist ein liebenswerter und bemitleidenswerter Mensch, der an dem, was ihm als Kind und Jugendlichem angetan wurde, beinahe zerbricht.

Richard Wagamese, der 2017 verstorbene Autor, war Angehöriger der indigenen Nation der Ojibwe, die vor allem im Nordwesten Kanadas lebten und leben. Die Geschichte, die er erzählt, trägt viele autobiographische Züge, ohne direkt eine Biografie zu sein.

Der Ich-Erzähler Saul wächst in den frühen 60er Jahren des letzten Jahrhunderts bei seiner Familie im nördlichen Ontario auf. Seine Familie blickt auf eine lange Geschichte und Tradition zurück. Besonders seine Großmutter ist für den Jungen eine wichtige Bezugsperson. Sie tut alles, um die Kinder der Familie vor den Behörden zu verstecken. Denn diese bringen alle indigenen Kinder in sogenannte Residential Schools. In diesen Heimen wird den Kindern mit Härte und Gewalt alles Indigene ausgetrieben. Sie dürfen ihre Sprache nicht sprechen, sie dürfen ihre Familien nicht sehen. Sie werden ihrer Kultur und ihrer Herkunft entfremdet. Solche Heime gab es in Kanada seit dem späten 19. Jahrhundert und noch bis 1996.

Doch in einem schlimmen Schneesturm stirbt Sauls Großmutter bei dem Versuch, ihn zu beschützen. Er wird gefunden und landet in der St. Jerome’s Residential School. Da ist er noch ein kleiner Junge.

St. Jerome’s nahm alles Licht aus meinem Leben.“ (S. 54).Saul erlebt dort schlimmste Gewalt, Hunger, Angst, Misshandlung und immer wieder den Tod von Kindern. Nonnen und Priester gleichermaßen kennen keine Gnade, keine Liebe, ihr einziges Ziel ist es, die indigenen Kinder zu brechen. Die einzige Zuflucht für das Kind ist er selbst. Saul zieht sich in sich selbst zurück, schweigt, widersetzt sich nicht.

Und dann tritt Eishockey in Sauls Leben. Ein neu in die Schule kommender Priester lehrt die Jungen diese Sportart und Saul wird zum absoluten Könner. Er fühlt die Spielzüge der gegnerischen Mannschaft, bevor diese sie selbst ahnt. Saul wird ein Star auf dem Eis, was ihn schließlich auch aus dem Heim rettet und bei einer liebevollen Pflegefamilie unterkommen lässt.

Aber je erfolgreicher er und seine Mannschaft werden, desto brutaler und gemeiner werden die rassistischen Angriffe der „Weißen“, die bei allem die Vorherrschaft in Kanada haben. Er versucht, all das zu ignorieren, nicht zu reagieren. Nur Eishockey ist ihm wichtig, dafür lebt er. Aber schließlich zerbricht Saul daran, beginnt zu trinken, wird zum Alkoholiker. Erst der Entzug in einer entsprechenden Einrichtung rettet ihn und führt zu einem versöhnlichen Ende.

Der Roman hat zwei Seiten. Auf der einen die harte und schonungslose Schilderung der Qualen und der rassistischen Angriffe, auf der anderen die Beschreibungen von Sauls Kunstfertigkeiten auf dem Eis. Auch diejenigen, die keinerlei Bezug zu Eishockey haben, können diese mit fast lyrischer Feder gezeichneten Bilder nachempfinden.

Bei der geradezu poetischen, dabei aber sehr ausdrucksstarken Erzählweise von Richard Wagamese meint man, an einem Lagerfeuer den Geschichten zu lauschen, die so alt sind wie die Menschen. Doch die Geschichte, die Wagamese erzählt, ist alles andere als lauschige Lagerfeuerromantik à la Winnetou.

„Dass mir die Wildnis und meine Leute entrissen wurden, war wie ein Riss im Fleisch in meinem Bauch. Immer wenn ich mich bewegte oder sprechen musste, erwachte der brüllende Schmerz.“ (S. 59). Solche Sätze sind es, die einen frieren lassen, solche Sätze sind es, die der Leserin die unglaubliche Brutalität, die absolut gefühllose Grausamkeit des Rassismus im Kanada dieser Zeit vor Augen führen. Der kanadische Premierminister Trudeau hat sich vor ein paar Jahren für all das Unrecht bei der indigenen Bevölkerung seines Landes in aller Form entschuldigt. Doch wird damit irgendetwas wieder gutgemacht? Wird damit irgendetwas ungeschehen gemacht?

Richard Wagameses Buch ist keine leichte, keine unterhaltsame Lektüre. Aber es ist ein Buch, das man gelesen haben sollte.

Richard Wagamese – Der gefrorene Himmel
aus dem kanadischen Englisch von Ingo Herzke
Blessing, März 2020
Gebundene Ausgabe, 254 Seiten, 22,00 €

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