Mach es mit Gefühl

Wenn du auf einem Feldweg spazieren gehst, lässt du dann Augen, Ohren und Nase zu Hause?

Ich glaube nicht. Ich glaube, du siehst das Grün des frischen Grases, den Reiher zwischen den Ackerfurchen oder das Flugzeug am Himmel Ich behaupte, du hörst das Brummen dieses Flugzeugs, das Rattern des Mähdreschers oder das Zwitschern der Spatzen. Und ich bin mir sicher, du riechst die Gülle, die der Bauer gerade ausbringt, den Rauch, der aus dem Kamin des Bauernhauses kommt oder die Abgase des Traktors.

Richtig?

Mit allen Sinnen

Warum sieht, hört und riecht dann deine Figur nichts?

Wenn sie mit ihren Lieben am Tisch sitzt, schmeckt sie nicht die Würze des Eintopfs, den ihre Mutter serviert hat? Wenn sie bei Minusgraden ihre Handschuhe vergessen hat, fühlt sie dann nicht, wie die Kälte in ihre Finger beißt?

All diese Gefühle und Empfindungen, für die wir unsere Sinne verwenden, solltest du deiner Figur nicht vorenthalten. Niemals.

Denn was deine Protagonistin riecht, schmeckt oder fühlt, riecht, schmeckt und fühlt deine Leserin. Wenn du beschreibst, wie die Säure der Zitrone das Zahnfleisch deiner Heldin zum Kribbeln bringt, wird deine Leserin diese Empfindung kennen. Und sie wird deine Heldin verstehen und so wie sie empfinden. Und genau das ist doch unser oberstes Ziel. Unsere Leser sollen mitfühlen, mitempfinden mit unseren Figuren.

Dafür sind uns unsere Sinne gegeben.

Ein Beispiel: Statt zu schreiben: A ging über die Straße und betrat den Laden. könntest du schreiben: A dimmte den Straßenlärm zu einem silbernen Rauschen hinter ihren Sorgen, den Gestank der Abgase konnte sie jedoch nicht ausblenden, er füllte ihre Nase wie Schleim. Erst das leise Klingeln der Ladentür riss sie aus ihren grauen Gedanken.

Nebenbei bemerkt ergibt sich durch das Ansprechen der Sinne deiner Protas eine geschickte Gelegenheit, Dinge aus ihrer Vergangenheit zu berichten. Rückblicke einzubauen in eine Handlung ist immer problematisch, doch mittels z.B. eines Geruchs oder eines Lieds kannst du wunderbar Erinnerungen in deiner Heldin wachrufen und pling, hast du die Überleitung zu einem kurzen Rückblick.

Spinnen wir das Beispiel noch etwas weiter: Im Laden spielt ein Kind auf einem Xylophon eine einfache Melodie. Plötzlich findet A sich um Jahre zurückversetzt. Diese Melodie hatte ihre Mutter oft gesummt, meistens wenn sie in der Küche stehen musste.

Brummen ist nicht gleich brummen

Wenn du deine Heldin all ihre Sinne verwenden lässt, dann beschränke sie dabei nicht in ihren Empfindungen. Lass sie nicht nur das „Brummen“ des Flugzeugs hören, finde andere, bessere Worte dafür. Aber verwende keine Klischees. Denke nach und wenn du meinst, ein gutes Wort für diesen Ton gefunden zu haben, denke weiter nach. Oder beschreibe den Ton über die Empfindung deiner Prota.

Beispiel Ton: Das Brummen versetzte ihr Zwerchfell in Schwingungen, es war wie ein Kitzeln, ein Lachen stieg in ihrer Kehle auf.

Beispiel Geschmack: das Mehlig-buttrige der Béchamelsauce erzeugte in ihm ein ungekanntes Glücksgefühl

Beispiel Geruch: Der Duft des vom Sommerregen feuchten Grases versetzte sie zurück in das verhasste Zeltlager, wo sie im Alter von neun Jahren schreckliche Wochen verbringen musste.

Oder: das feuchte Gras roch nach Idylle, Ramafamilie, zotteligen Schafen und trägen Kühen.

Beispiel Gefühl: Als er ihren Rücken berührte, spürte sie die Wärme seiner Hand durch den Stoff ihres Kleides. Die Wärme rieselte ihre Wirbelsäule hinab und erfüllt ihren Körper …

Okay, alles vielleicht nicht Pulitzerpreisverdächtig, aber du merkst, wie es funktioniert, nicht wahr? All das weckt etwas in deinen Leser:innen, sie spüren es am eigenen Leib.

Ente oder Dino

Ein weiterer Trick, gerade wenn du bei deinen Leser:innen Gefühle erzeugen möchtest, ist die Verwendung von Metaphern und Vergleichen. Der Unterschied zwischen beiden ist nicht so scharf.

Ein Vergleich wäre: Er hatte einen Gang wie eine Ente.

Eine Metapher: Er watschelte über die Straße.

Anderes Beispiel: Der Bagger war groß wie ein Tyrannosaurus, seine Schaufel biss mit spitzen Zähnen in die Erde -> Vergleich und Metapher in einem Satz. Aber Achtung: beides muss zueinander passen. Der Satz wäre holprig und würde nicht funktionieren, wenn er hieße: Der Bagger war groß wie ein Haus und die Schaufel biss mit spitzen Zähnen in die Erde. Du merkst es, oder? Ein Haus kann nicht beißen, meines Wissens 😉

Zurück zu den Sinnen und den Mitteln, derer du dich bedienen kannst, um sie in Worte zu fassen. Achte darauf, dass deine Figuren ihre Sinne nicht verlieren, schaffe Atmosphäre durch Gerüche, Geräusche und Gefühle.

Wenn dein Protagonist einen ihm fremden Raum zum ersten Mal betritt, wirkt dieser Raum auf ihn. Der Raum riecht nach etwas, in diesem Raum entstehen Töne, er erzeugt Emotionen in den Personen, die sich darin aufhalten. Beim nächsten Mal, wenn er an diesen Ort zurückkehrt, wird er sich an diese Wahrnehmungen erinnern. So erzeugst du Atmosphäre, Stimmung und Spannung – für deine Figuren und für deine Leser:innen.

Nicht nur fünf

Vergessen wir aber nicht unseren sechsten Sinn. Du weißt nicht, was das ist? Damit ist die außersinnliche Wahrnehmung gemeint. Also Ahnungen oder Gefühle, die man schwer benennen kann. Stell dir vor, du sitzt in der Bahn und hast das Gefühl, beobachtet zu werden. Das hast du sicher schon einmal erlebt. Oder – was mir mit meiner besten Freundin schon „unheimlich“ oft passiert ist – du denkst an jemanden und kurz darauf meldet genau diese Person sich bei dir. Oder, letztes Beispiel, deine Heldin ahnt, dass jemand sie im Wald verfolgt, ohne zu wissen, wer oder wieso. Höchste Spannung ist garantiert. 😉

Gestalte deine Charaktere empfindsam, lass sie all ihre sechs Sinne benutzen. Damit wird deine Geschichte lebendiger und deine Figuren werden lebensechter.

Ich habe das Gefühl (!), über dieses Thema gäbe es noch viel mehr zu sagen. Wer dazu viel und Wichtiges geschrieben hat, ist Sol Stein in seinem unübertroffenen Schreibratgeber „Über das Schreiben“. Eine Rezension dazu veröffentliche ich demnächst hier im Blog.

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