Entscheidende Minuten

Erzählung, erschienen in "Krimi-Kurzgeschichten III"

Tausend glühend heiße Käfer krabbeln über meinen Körper, setzen ihn in Brand. Feurige Zungen lecken an meiner Haut. Rauch kriecht in meine Lungen, raubt die Luft zum Atmen. Ich ersticke.

Die Realität geht in Flammen auf.

„Die Obduktion ist noch nicht abgeschlossen“, Mama schluchzt. „Darum weiß die Polizei noch nicht, wer in deiner Wohnung verbrannt ist. Sie mussten doch glauben, dass du es bist.“

Das Telefon gleitet mir beinahe aus den schwitzigen Händen. Ich suche nach Worten. Meine Mutter, die Polizei, alle dachten, mussten denken, ich sei tot. Während ich mich sehr lebendig fühle. Fühlte. Bis eben.

Bilder entstehen in meinem Kopf. Von Rauch und zuckenden Flammen. Ich fühle sengende Hitze an den Härchen auf meinen Armen.

„Sind sie sich denn sicher, dass es eine Frau ist?“ frage ich schließlich.

„Ja. Sonst hätten sie doch nicht angenommen, dass du dort verbrannt bist. Der Polizist hat gesagt, sie trug eine Halskette mit einem Anhänger. Sie wollen heute Abend noch vorbeikommen und ihn mir zeigen, ob ich ihn als eines von deinen Schmuckstücken wiedererkenne.“ Die Stimme meiner Mutter zittert so sehr, dass ich sie kaum verstehe. „Eine Identifizierung sei nicht mehr möglich, weil sie so stark verbrannt ist. Deswegen haben sie gestern Abend eine DNA-Probe von mir genommen, um sie mit der der Toten zu vergleichen…“ sie kann nicht weitersprechen.

Ich rufe mir den Freitagnachmittag in Erinnerung, als mich Antonia zu unserem Wochenendtrip abgeholt hatte. Ich bin mir ganz sicher, dass ich die Wohnungstür abgeschlossen hatte und dass auch kein Fenster offengeblieben war. Wer war die Frau und wie war sie in meine Wohnung gekommen?

Da höre ich, dass bei meiner Mutter die Türklingel ertönt.

„Das ist bestimmt die Polizei, Connie, warte einen Augenblick“, sagt meine Mutter und legt den Telefonhörer nieder. Es ist einen langen Moment still. Dann ruft meine Mutter: „Nein, das kann nicht sein, ich habe doch gerade mit ihr gesprochen.“

Sie kommt zurück zum Telefon: „Connie, sie sagen, die Tote wärst du. Sie haben den DNA-Test gemacht und der bestätigt es. Connie“, fleht sie mich an, „komm her, so schnell du kannst. Bitte!“

Ich klappe Antonias Handy zu und blicke sie an. Sie sitzt am Steuer neben mir und hat alles mitbekommen.

„Mach dich jetzt nicht verrückt, wir sind gleich da. Sollen wir erst zu dir fahren?“ fragt sie. Ich nicke, obwohl ich Angst habe vor dem, was mich dort erwartet.

Den Rest der Fahrt schweigen wir. Nur einmal erinnert Antonia daran, dass mich am Samstagnachmittag bei unserem Strandspaziergang plötzlich trotz des kalten Seewinds eine solche Hitze überfiel, dass ich vor Schmerzen aufschrie. „Man könnte glauben, du hättest das Feuer gespürt“, sagt Antonia und schüttelt sich.

© Renate Müller


Auszug, erschienen in
Krimi Kurzgeschichten III
Hrsg.: Elke Link
Noel-Verlag, 2019