Zwischen zwei Gefühlen

Erzählung, erschienen in "Lebenszeiten"

In den vergangenen Stunden hatte Charlotte den Heizungskeller porentief gereinigt, ihren Hund gebürstet, alle Möbel im Wohnzimmer umgestellt, den Hund gebürstet, ihren Kleiderschrank aus- und wieder eingeräumt, ihren Hund gebürstet, ihre Bücher alphabetisch geordnet, den Hund gebürstet – und 17-mal angefangen, einen Brief an ihren Mann zu schreiben.

Jetzt versteckte sich Dackel Hermann unter dem Sofa und Charlotte saß verschwitzt und staubig an ihrem Schreibtisch und wusste nicht weiter. Sie las, was sie bisher geschrieben hatte.

 „Sebastian. Verzeih mir. Es gibt einen anderen Mann, den ich vor einigen Monaten traf. Du kennst ihn nicht. Aber ich fühle, ich muss zu ihm. Es tut mir weh, dich so zu verletzen. Aber ich liebe ihn. Obwohl ich dir gehöre.“ Hier hielt sie inne und starrte vor sich auf das Blatt, ohne etwas zu sehen.

Wie sollte sie Sebastian klarmachen, was in ihr vorging? Wie sollte er sie verstehen, wo sie sich doch selbst nicht verstand?

Sie las weiter, was sie geschrieben hatte: „Er gibt mir etwas, von dem ich nicht wusste, dass ich es suche. Ich habe bei dir in all den Jahren nie etwas vermisst und doch spüre ich, dass etwas fehlte. Du bist das Wichtigste in meinem Leben und alles, was zwischen uns gewesen ist, bleibt wahr und richtig. Er weiß, dass ich nicht frei bin und dass ich es nicht sein möchte. Und doch zieht es mich zu ihm.“

 Das klang so schwülstig, so kitschig. Wie sollte sie die richtigen Worte finden, ihre Gefühle beschreiben, ohne ihm furchtbar weh zu tun?

Charlotte stand wieder auf, ging zum Fenster und schaute hinaus in den Sonnenschein, der so gar nicht zu ihrer Stimmung passte. Sie drehte an ihren Ehering. Rum und rum und rum

Durch das Fenster drang das Tirilieren eines Vogels, es klang wie: „Entscheide dich, entscheide dich…“

Lukas würde sie mit einem roten Teppich empfangen, er wartete auf sie. Sie fühlte die Wärme seiner Hände auf ihrer Haut, das Kitzeln seiner Finger, die über ihre Wirbelsäule strichen. Sie roch den Duft nach Tieren und Desinfektionsmitteln, der sie umwehte, wenn er ihr seine Jacke umhing, sobald er glaubte, ihr wäre kalt. Seine Stimme war weich wie ein Kaschmirpullover und seine Umarmung schien ihr wie ein magischer Mantel, der sie gegen alles Böse schützte.

Charlotte spürte einen Kloss im Hals und schluckte. Sebastian verlassen? Sie liebte ihn doch, sich ein Leben ohne Sebastian vorzustellen, gelang ihr nicht. Es war ihr unendlich schwergefallen, ihn in den letzten Wochen anzulügen. Nicht nur deshalb hatte sie sich vorgenommen, eine Entscheidung zu treffen, jetzt, solange er mit seiner Klasse auf Studienfahrt war. Sie hatte geplant, ihm danach den Brief zu geben, aber heute Abend würde Sebastian nach Hause kommen und der Brief war nicht fertig und sie zu keinem Entschluss gekommen.

Charlotte ging zum Schreibtisch und blickte auf den angefangenen Brief. Was sie hier aufgeschrieben hatte, würde Sebastians Welt zerstören.

Sebastian, der nie etwas forderte, sie nie bedrängte. Er war da, wenn sie Halt brauchte und ließ ihr Luft, wenn sie nach Freiraum verlangte. Sebastian, der ihr, sollte sie je einen Mord begehen, unaufgefordert ein Alibi geben würde, überzeugt, dass sie stichhaltige Gründe für ihre Tat hätte.

Charlotte zwinkerte. Lukas dagegen, dachte sie, würde bedingungslos den Mord für sie begehen.

Charlotte drehte das Blatt in den Händen. Sie liebte beide Männer und doch musste sie sich für einen entscheiden.

„Verdammt!“

Dackel Hermann zuckte vor Schreck zusammen und stieß sich die Schnauze an der Sofaecke.

„Verdammt“, noch einmal fluchte Charlotte und mit einer heftigen Bewegung wischte sie alles vom Schreibtisch.

„Komm, Hermann“, rief sie, schnappte sich Handy und Schlüsselbund und verließ das Haus durch die Tür zur Garage. Dort setzte sie Hermann in den Korb am Lenker, schob ihr Fahrrad nach draußen, stieg auf und fuhr los.

….

© Renate Müller


Auszug, erschienen in
Lebenszeiten
Hrsg.: SiebenSchreiber, 2015